Bildung ist ein wertvolles und erstrebenswertes Gut
 

Mit Spannung lauschten die Oberstufenschüler des Jahrgangs 12 den Gewinnertexten im Wettbewerb `kreatives Schreiben – KlassenSätze`. „Es sind wirklich tolle und fantasievolle Ergebnisse dabei herausgekommen“, sagte auch Kirsten Nommensen.

 

Der letzte Herzschlag
Überall Blut. Menschen sterben für die reichen Arschlöcher. Gesunde Menschen gegen kranke Men-
schen. So ist das Leben auf dem Schwarzmarkt. Keiner denkt dran, bis man es auf seiner eigenen
Haut spürt. Mal wieder sehe ich eine dieser Frauen vor mir, gefesselt und mit Tränen in den Augen.
Wie gelähmt stehe ich da, als ich den Hilfeschrei in ihrem Blick sehe. Ich drehe mich von ihr weg,
um diese Augen wieder vergessen zu können. Wenn ich jetzt gehen würde oder besser gesagt, wenn
ich jemals gehen würde, dann würde ich genau wie sie enden. Genau wie sie und die anderen Men-
schen, die unter den schweren Händen der Reichen leiden müssen. Mein Boss ruft mich: „Ey du
Schisser, pack mal an. Sonst bist du der nächste, der unterm Messer liegt.“ Ich gucke wieder zu der
Frau hinunter. So schnell kann man einem gesunden Menschen das wertvollste nehmen. Ich frage
mich, ob sie eine Familie gehabt hat. Vielleicht Kinder, die noch zu Hause auf sie warten? Oder eine
Großmutter, die heute ohne ihre Hilfe keine Tabletten nehmen wird? Ihr Leben ist jetzt vorbei, dafür
geht ein anderes weiter. Ist das fair? Darüber habe ich nicht nachgedacht, als ich hier gelandet bin.
Ich habe mich auch nur aus den Fesseln lösen wollen, um endlich mit voller Kraft ins Leben treten
zu können. Damals ist mir die Brutalität dieser gefühllosen Menschen nicht klar gewesen. Nachdem
ich das mir vorgeschriebene Schicksal verändert habe, hat die Hölle angefangen. Ich habe gewusst,
wessen Herz in meiner Brust schlagen würde, habe mir sogar selbst aussuchen können, wessen Herz
es sein wird. Das Geld dafür habe ich damals gehabt. Aber ein schönes Leben habe ich mir nicht
kaufen können. Jede Nacht träume ich von ihm. Mit seinem Herzen hat sich auch ein Stück seiner
Seele in mir verfangen. Ein kleiner Teil, der mir diese schrecklichen Bilder seiner letzten Nacht immer
wieder vorspielt. Ich spüre die Angst und wie schnell sein Herz geschlagen hat, als er versucht hat
vor seinem Schicksalswechsel zu fliehen. Im selben Moment habe ich auf einem Operationstisch
gelegen und habe nur drauf gewartet, dass sein Herz meins wird. Und jetzt? Jetzt bin ich in einem
schwarzen Loch, voller Unmenschen. Wofür habe ich einem anderen Mann das Herz genommen,
wenn ich nicht in vollen Zügen leben kann? Nur für mehr Geld bin ich hier nach der Operation ein-
gestiegen. Das Geld habe ich nur noch nie gesehen. Sie haben die Macht über mich, genau wie über
alle anderen Menschen. Ich habe doch nur wieder leben wollen, aber stattdessen bin ich zur mörderi-
schen Marionette geworden. Jetzt ist es schon zwei Jahre her, dass ich angefangen habe, für diese
Leute zu arbeiten. Für die anderen hier ist es schon Alltag geworden, anderen Menschen das Leben
zu nehmen, aber ich kann mich nicht damit abfinden. Genauso wenig wie damit, dass ich der Grund
für einen Tod bin.
Es ist schon vier Uhr morgens und ich bin endlich zu Hause. Ich rieche nach Eisen und fühle mich
ekelhaft. Hastig reiße ich mir mein T-Shirt runter. Meine Hose liegt schon auf dem Boden, als ich
unter die Dusche gehe. Ich fühle Nichts. Nur Leere. Ich höre Nichts, außer meinen Herzschlag, der
immer lauter wird. Bum-bum bum-bum bum-bum. Die Bilder strömen mir wieder durch den Kopf
und ich breche schreiend zusammen. Wie Lava fließt das Wasser meinen Rücken hinunter. Aber es
interessiert mich nicht. Ich höre nur dieses schnelle Pochen. So ein Leben habe ich mir nicht ge-
wünscht. Als ich wieder zur Ruhe finde, setzte ich mich aufs Sofa. Um mich herum niemand. Nur
die Stille, mit der ich die meiste Zeit meines Lebens verbringe. Seit der Transplantation kann ich nicht
mehr schlafen. Ich sitze oft hier und denke über meine Fehler nach. Manchmal rede ich mit der Stille.
Sie antwortet mir nur mit meinem Echo, aber das reicht mir schon. Manchmal, da macht mich die
Stille aber verrückt, denn mit Ihr höre ich seinen Herzschlag nur noch lauter. Ich hätte gerne jemanden
neben mir sitzen, dann könnte ich die Gedanken und die ganze Scheiße vielleicht mal vergessen, aber
dafür müsste ich mich aus dem Haus trauen. Mit Menschen reden. Ich bin eigentlich ein attraktiver
Mann, habe nach der Transplantation auch wieder mit dem Sport anfangen können, aber das gibt mir
trotzdem nicht den Mut anderen Menschen vor die Augen zu treten. Was, wenn sich die Grausamkeit
darin spiegelt? Wäre die Stille nur nicht so einsam.
Ding Dong. Es ist 14 Uhr und das ohrenbetäubende Klopfen durchzieht den Raum. Einmal klingeln
hätte auch gereicht. Durch die kleinen Fenster neben der Haustür sehe ich drei bewaffnete Männer.
Scheiße, die Bullen. Ich bleibe lässig. Mit einer ruhigen Bewegung öffne ich die Tür. Sie stürzen sich
nicht auf mich. Puhh. „Guten Tag, womit kann ich Ihnen helfen?“, frage ich sie freundlich. Einer von
ihnen fragt mit ernster Stimme: „Können wir hereinkommen. Wir müssen mit Ihnen sprechen.“ Be-
stimmt wollen sie wirklich nur reden, sonst hätten sie mich schon festgenommen. Ich lasse sie rein
und wir setzen uns an meinen Küchentisch. „Seit gestern Abend wird eine 30-jährige Frau aus der
Nachbarschaft vermisst. Sofia Martini. Kennen Sie diese Frau?“ befragt er mich. „Nein, tue ich
nicht.“ Innerlich hoffe ich, dass es nicht die arme Frau ist, der wir letzte Nacht das Leben genommen
haben. „Den Nachbarn ist aufgefallen, dass Sie oft erst früh am Morgen nach Hause kommen. Wo
waren sie gestern zwischen 20 und vier Uhr?“ Scheiße. Scheiße. Scheiße. „Äm … gestern, ja? Da
müsste ich in der Bar gewesen sein.“ Die Polizisten tauschen einen skeptischen Blick aus und richte-
ten ihren Fokus wieder auf mich. Ich spüre die Schweißtropfen auf meiner Stirn. Scheiße man. „Kann
das jemand bestätigen?“ „Nein Sir, ich war alleine da.“ „Haben sie dort keinen getroffen, der bestäti-
gen kann, dass sie in der Bar waren? Haben sie eine Rechnung, die Sie vorlegen können?“ „Nein Sir,
nichts.“ Sie drehen sich von mir weg und besprechen irgendetwas. Keine Ahnung was, denn mein
Herz schlägt wieder wie verrückt. Als sie sich wieder zu mir drehen, ist ihr Blick noch ernster als
zuvor. „Haben sie gestern Abend etwas mitbekommen, was uns weiterhelfen könnte?“ „Nein Sir, ich
habe den ganzen Abend in der Bar verbracht.“ Entweder habe ich doch glaubwürdig geklungen, oder
sie haben nicht genügend Beweise, um mich festzunehmen, aber sie stehen auf und sagen nur sie
würden wieder kommen. Ich gehe wieder in das Wohnzimmer und setzte mich auf mein Sofa. Stille.
Dieses Mal ist dort wirklich nur Stille, die nichts mit mir tut. Ich sitze nur da und starre an die Wand.
Um 16 Uhr geht es wieder los. Ich denke jetzt schon an die arme Person, die heute keine andere Wahl
haben wird, als zu sterben. Ich kann das alles nicht mehr. Wenn ich doch einfach aussteigen könnte.
Ich könnte die Polizei holen und aus der Hölle entkommen, doch damit würde ich mich nur wieder
in den Fesseln finden. Nur deshalb mache ich nach zwei Jahren Qual immer noch bei dieser Drecks-
arbeit mit.
Um 15.36 Uhr klingelt mein Telefon. LM. Das steht für meinen Boss, Luca Marino. „Hallo?“ „Marco,
Via Modesta um 16 Uhr. Haus 34.“ „Okay Boss.“ „Keine Minute später, sonst haben wir heute ein
männliches Opfer.“ Ich weiß nicht ganz, warum wir heute schon so früh losmüssen, aber Fragen
stellen ist bei ihm eh nicht erlaubt. Um 16 Uhr gehe ich also zu dem besagten Ort. Die Straße wirkt
wie ein schmaler Pfad ins Unbekannte. Wir treffen uns in einem weißen Van vor dem Haus Nummer
34. Ich weiß, dass es heute wieder eine Frau wird. Keine Ahnung wie alt sie ist oder wer sie ist, aber
was ich weiß, ist, dass sie gesund ist. Das Einzige, was mich immer noch verwirrt, ist die Uhrzeit. In
diesen zwei Jahren sind wir noch nie so früh unterwegs gewesen. Wohl möglich haben sie schon
herausgefunden, dass sie jeden Tag um diese Uhrzeit hier vorbeigeht. Durch eine Straße ohne jegliche
Hoffnung auf Rettung. Um genau 16:26 Uhr werden alle unruhig. Mein Boss schreit: „RUHE JETZT!
Sie kommt!“ Es ist still. Die einzige Person, die ich in der Nähe sehe, ist ein junges Mädchen, das
bestimmt von der Schule nach Hause geht. 14 Jahre vielleicht. Aber ein potenzielles Opfer? Das kann
nicht sein. Matteo, einer der zwei, die heute auch hier sein müssen, schneidet ein Stück von einem
Stofftuch ab. Das Messer legt er einfach auf einen Karton, der im Van herumsteht. Als mein Boss das
Fläschchen mit dem Chloroform öffnet, begreife ich es endlich. Sie wollen das junge Mädchen. „Ey
Stopp mal jetzt. Ihr wollt das Mädchen umbringen?“ „So war das Geschäft. 200.000 Dollar sind ihre
jungen Organe doch wert“, meint er. Sein Gesicht zieht sich zu einem psychopathischen Grinsen
zusammen, als er das Geld erwähnt. „Seid ihr bescheuert oder so. Sie ist vielleicht 14, wenn nicht
noch jünger!“, betone ich, um ihre Meinungen zu ändern. „Woah interessiert dich auf einmal das
Leben anderer? Dein Ticket zum Teufel hast du dir eh schon besorgt. Es schlägt gerade in deiner
Brust.“ „Ich bin raus aus dieser Scheiße“, verkünde ich in der Hoffnung, dass ich nach diesem Satz
noch stehen kann. „Denkst du, du kannst jetzt gehen? Du bist genauso schuld wie wir alle.“ Ich sehe
alle drei an. Jedem einzelnen in diesem dunklen Van gucke ich in die kalten Augen. Wie ein Rückblick
laufen mir all die Bilder von den Opfern der letzten zwei Jahre durch den Kopf. Ein junges Mädchen
will ich dort nicht sehen. Und eigentlich gar keine neuen Personen.
Das Mädchen ist noch vier Autos von ihrem Tod entfernt. Aber ich könnte das alles stoppen. Ich habe
noch etwa 30 Sekunden, um mir auszudenken, wie ich ihr Leben retten kann. Die Waffe, die mir mein
Boss gegeben hat, könnte jetzt sein Leben kosten. Sie ist an meiner Hüfte befestigt und wartet nur
darauf rausgeholt und abgedrückt zu werden. Eigentlich sollen wir unseren Boss mit den Waffen
beschützen, aber jetzt rette ich dieses Mädchen. Mein Boss steht perfekt da. Ich reiße meine Waffe
aus dem Holster, schnappe mir gleichzeitig das Messer, das auf dem Karton liegt und halte es meinem
Boss an den Hals. Meine Waffe ist auf die anderen zwei Männer im Wagen gerichtet. „Bist du be-
scheuert! Tu das Messer weg, du Wichser!“, schreit Matteo. „Geht aus dem Auto!“, befehle ich ihnen.
Das erste Mal gebe ich vor, was zu machen ist. Keiner von ihnen hat sich auch nur ein Zentimeter
bewegt. „RAUS JETZT!“, befehle ich ihnen erneut. Dieses Mal gehen sie raus. Mit einer hastigen
Bewegung dreht sich Matteo draußen wieder zu mir und richtet seine Waffe auf mich. Scheiße, das
habe ich nicht bedacht. Egal jetzt ist es schon zu spät einen Rückzieher zu machen. Simone, der
andere Mann, versucht gerade wegzulaufen, als ich ihm ohne nachzudenken, ins Bein schieße. Er
fällt zu Boden. Das Mädchen, dass eigentlich gleich im Van landen sollte, läuft schreiend davon. Im
Fenster des Hauses 34 sehe ich das Gesicht der Erlösung. Ich hoffe, diese Frau ist gerade dabei die
Polizei zu rufen, denn allein halte ich es hier nicht mehr lange aus. Mein Herz schlägt immer schneller
und meine Hände fangen an vor Angst zu zittern. In einigen Stunden werde ich wieder gefangen sein.
Abgetrennt von der Natur, in der ich so gerne mit vollen Zügen leben wollte. Es ist mir egal, denn ich
will endlich dieses unsichtbare Netz des Organhandels zerreißen. Diesen illegalen Markt stoppen,
sodass Menschen, die leben sollen, auch leben können. Das Pochen in meinen Ohren wird immer
lauter und lauter. Mein Kopf dreht sich und ich kann nur schwer atmen. Ich versuche stehe zu bleiben,
doch es fällt mir schwer. Mein Boss befreit sich, indem er mir seinen Ellbogen in den Bauch haut. Es
fühlt sich an, als hätte jemand meine Organe zerquetscht und ich weiche aus. Durch meine schnelle
Bewegung streift das Messer in meiner Hand meinen Boss. Es blutet zwar nur leicht, aber es muss
auch ihm wehgetan haben, denn er schreit: „Fuck!“ Gekrümmt stehe ich da und sehe zu meinem Boss,
der sich die Wunde am Hals zuhält. Über meinen rasenden Puls hinweg höre ich laute Sirenen. End-
lich kommen sie. Nur verschwommen sehe ich noch das Blaulicht, das immer näherkommt. Als es
endlich stehen bleibt, breche ich zusammen. Mit jeder Sekunde steigt mein Herzschlag, bis es sich so
anfühlt, als wäre mir mein Herz in die Ohren gerutscht. Ich sehe noch, wie ein Beamter immer näher
zu mir kommt und wie mein Boss verhaftet wird, bevor alles dunkel wird und das Hämmern ver-
stummt.