Die Sprache der Tiere zu verstehen, scheint vordergründig kaum etwas mit dem Profilfach Psychologie in der Oberstufe zu tun zu haben, wenn man bedenkt, dass Psychologie als Wissenschaft vom Erleben und Verhalten des Menschen bestimmt ist. Da es in der ‚Eselei‘ allerdings um die Interaktion und Kommunikation zwischen Mensch und Esel geht, sind wir durchaus inmitten psychologischer und sogar tiertherapeutischer Aufgaben und Fragestellungen der Psychologie. Tiere, als emotional agierende Wesen, bieten die Möglichkeit zur Problemaktualisierung und Projektion, sodass die eigenen Gefühle leichter wahrgenommen und akzeptiert werden können.
Sich auf die Sprache der Esel einzulassen, seine eigene Voreingenommenheit oder seine Unsicherheiten zu überwinden, können sich nicht nur wohltuend auf die Seele des Menschen auswirken, sondern auch sein non- und paraverbales Verhaltensrepertoire vervollkommnen. Durch das aufmerksame Beobachten des Sozialverhaltens der Esel lernen die Oberstufenschüler*innen, dass Esel nicht dem Stereotyp des ‚sturen Bocks‘ entsprechen, sondern als Tierindividuen ihren ganz eigenen Charakter haben – der eine schüchtern, der andere neugierig und der dritte mutig, allesamt aber autonomiebewusst und sanftmütig zugleich. Woran erkenne ich, dass ein Esel gelassen und ruhig ist? Wie drückt ein Esel körpersprachlich aus, dass ihm etwas Unbehagen bereitet? Die Oberstufenschüler*innen erweisen sich als aufmerksame Beobachter*innen und es gelingt ihnen rasch, die Bedeutung der nonverbalen Signale der zwei Zwerg- und zwei Hausesel, Paula, Pinu´u, Maja und Moritz, zu erfassen, da viele von ihnen auf vergleichbare Erfahrungen im Umgang mit den artverwandten Pferden zurückgreifen können. Mit Freude putzen und striegeln sie gemeinsam die vier entspannt-dösenden Esel, spüren deren Wärme und ertasten die Beschaffenheit des plüschig-fremden Tierfelles. Durch diese vorsichtig-respektvolle Kontaktaufnahme sind sie in der Lage dazu, emotionale Nähe zum Tier aufzubauen. Während Paula, Maja und Moritz die Bürstenmassagen sichtlich genießen, ist Pinu’u am Bauch ein klein bisschen kitzlig und verdeutlicht sein Unbehagen mit einem unzweifelhaften tritt mit seinen schmalen Hufen, angelegten Ohren und ausweichenden Körpergesten. Nach einer Probe-Führungsrunde auf dem umzäunten Auslauf, setzt sich unsere kleine Karawane in Bewegung.
Während des Spaziergangs am Waldrand von Bergedorf mit einem herrlichen Blick auf die Vier- und Marschlande und in Begleitung von Paula, Pinu´u, Maja und Moritz, die die Picknicktaschen tragen, üben sich die Schüler*innen im selbstsicheren Auftreten, weil die eigenwilligen Esel andernfalls ihren Anweisungen nicht folgen würden, sondern stattdessen ihrem Nahrungstrieb frönen würden. Nahezu beiläufig führt der Eselführer aus Leidenschaft, Andreas Kirsch, aus, dass Esel keine Hierarchie kennen und man daher echte Überzeugungsarbeit leisten muss. Der Huftierexperte mahnt an, dass viele der verlockend-farbenfrohen Pflanzen am Wegesrand wie Maiglöckchen, Rhododendron oder Jakobskreuzkraut für Esel giftig sind, schließlich muss der Eselvater gut auf seine felligen Mitarbeiter*innen aufpassen. Während der gebotene Führungsstil neben oder vor den Eseln mit Maja und Moritz scheinbar mühelos gelingt, erweist sich der Spaziergang mit Pinu’u als pädagogische Herausforderung. Aber auch Pinu’u reagiert in gewünschter Weise, wenn verbales, non- und paraverbales Verhalten seiner Begleiter*innen kongruent sind und ermöglicht den Schüler*innen so die Erfahrung, selbstwirksam handeln zu können. Auch den durchaus steilen 100stufigen Treppenaufstieg inmitten der Wanderroute meistern die grauen Gefährten scheinbar mühelos, weil die Tiere ursprünglich u.a. aus den steinigen Bergen Asiens stammen.
Die Verabschiedung von den Vierbeinern erfolgt schweren Herzens, haben die Schüler*innen doch beispielsweise die Grande Dame der Eselei, Maja, auf der gemeinsamen Eselwanderung sehr liebgewonnen. Begleitet von Kaugeräuschen der neuen Freunde über ihren Futterschüsseln werden die Herausforderungen einer Eselwanderung mitunter schmunzelnd reflektiert.